Die Ernährung nimmt im Bodybuilding eine wichtige Rolle ein. In wohl kaum einer anderen Sportart legen selbst Anfänger einen so großen Fokus darauf, was auf ihren Teller oder besser in die Tupperdose gelangt. Neben dem Alltag nimmt insbesondere die Diät eine besondere Stellung ein. Cheat-Days, Selbstgeißelung und die Reduzierung des Körperfettanteils auf ein Minimum. Kaum jemand verzichtet in dieser Zeit so konsequent auf Nahrung und Gelüste wie Bodybuilder, was nicht selten entsprechende körperliche und psychische Konsequenzen nach sich zieht. Dies führt zu der eigentlichen Frage: Sind Bodybuilder essgestört?
Ein systemischer Blickwinkel
Um meine Gedanken zu dieser Frage besser verständlich zu machen, muss ich zunächst ein wenig ausholen. Eine vielversprechende Möglichkeit, um sich der gegenseitigen Beeinflussung von Verhaltensweisen, Zuständen und anderen Lebensumständen bewusst zu werden, stellt eine systemische Betrachtung dar.
Einfach formuliert beschreibt ein System die Art und Weise, wie auf Reize reagiert wird bzw. wie Vorhaben umgesetzt werden. Wer beispielsweise Hunger hat, isst etwas. Was eine Person isst, hängt vom Essverhalten ab. Wie das System Essverhaltens sich wiederum gestaltet, ist bekanntermaßen sehr individuell, aber gleichzeitig auch nicht vom Umfeld losgelöst.
Reis, Hähnchen und Brokkoli
In meinem Buch „Wie man in Form kommt…“ führte ich bereits das Beispiel des Hundefleischs an, das wir in unserer stereotypischen Vorstellung auf manch asiatischen Tellern vermuten, aber nicht in Deutschland erwarten würden. Dennoch ist es hierzulande per Gesetz erst seit wenigen Jahrzehnten verboten und wurde in einigen Regionen Deutschlands noch lange als eine Art Spezialität angeboten.
Das Hundefleisch ist ein Extrembeispiel, welches aber verdeutlicht, dass unser Umfeld bzw. die Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen, einen Einfluss darauf ausüben, welche Nahrungsmittel für uns akzeptabel sind, um den Hunger zu stillen. Dabei muss man nicht nur mit dem imaginären Finger auf Vegetarier oder Veganer zeigen.

Wer an Bodybuilding und Fitness denkt, hat Reis und Hähnchen, Brokkoli, Proteinshakes und den Verzicht auf Süßigkeiten im Kopf. Das Essen soll im Bodybuilding nicht nur Einfluss auf das System Hunger ausüben, sondern insbesondere auch auf die Systeme Leistungsfähigkeit, Muskelmasse und Körperfettanteil.
Systeme dienen der Analyse
Damit sollte eine gewisse Vorstellung davon existieren, was ich mit einem System meine. Neben dem „Verarbeitungsprozess“ von Außeneinflüssen gibt es einen zweiten wichtigen Punkt, der bei Systemen beachtet werden muss: Systeme beeinflussen einander indirekt oder direkt.
Wenn ich mich entschieden habe, meinen Hunger mit Reis, Hähnchen und Brokkoli zu sättigen und dies nicht nur auf eine Mahlzeit, sondern auf eine ganze Ernährungsweise zu übertragen, kann dies zu Konflikten in meinem familiären Umfeld führen. Es stärkt mein Zugehörigkeitsgefühl zur Bodybuildingcommunity, wirkt sich je nach Fleischqualität und Menge des Fleischkonsums aber spürbar auf meinen Geldbeutel aus.
Dies zieht wiederum andere Reaktionen in der Familie, meiner Sicht auf das Bodybuilding und meinem Kaufverhalten nach sich. Die gegenseitige Beeinflussung der Systeme kann also positive wie negativ sein und wirkt sich unmittelbar, aber auch mittelbar aus.
Wie stark diese Effekte sind, hängt von der Kombination der Lebenssituation, der Ausprägung der beeinflussten Systeme und insbesondere dem wirkenden System ab. Wer keine Familie hat, ist weniger an sein Ernährungsverhalten gebunden. Wer den Jackpot im Lotto geknackt hat, wird sich weniger um Geld Gedanken machen als ein Auszubildender, der frisch von zu Hause ausgezogen ist. Diese Extrembeispiele sollten verdeutlichen, was mit der Lebenssituation und den beeinflussten Systemen gemeint ist.
Welches ist das gerade wirkende System?
Welches System das wirkende ist, ist selbstverständlich eine Frage der Perspektive. In dem so weit dargestellten Beispiel ist es das Essverhalten. Für dieses gilt wie für jedes System, dass es sich in einem gewissen Gleichgewicht bewegt, was in der Konsequenz auch bedeutet, dass dieses Gleichgewicht aus den Fugen geraten kann. Ein System kann sich auflösen oder zerstört werden, wenn man es so ausdrücken will.
Im Fall der Reis und Hähnchen-Ernährung wäre dies der Fall, wenn man beispielsweise auf eine vegetarische Ernährung wechselt und in der Konsequenz jede Form von Fleisch meidet. Dies wäre die komplette Auflösung, wohingegen ein temporärer Verzicht oder die Variation mit anderen Fleischsorten eine Reduzierung der Systemwirkung nach sich zieht. Es wäre einfacher, gemeinsam mit der Familie Mahlzeiten einzunehmen und möglicherweise sparsamer für den Geldbeutel.
Doch Systeme können sich nicht nur auflösen, sondern auch einen zu starken Einfluss ausüben. Überreagieren, wenn man es so ausdrücken möchte. In diesem Fall haben sie weitreichende negative Auswirkungen auf eine Vielzahl anderer Systeme. Ein bekanntes Beispiel hierfür sind Krankheiten, die unseren gesamten Körper fordern, unsere Aktivität verringern und auch Einfluss auf unsere soziale Interaktion nehmen. Ein anderes Beispiel wäre der Fall, wenn wir auf die Teilnahme am Geburtstag verzichten, da wir weder Kuchen essen noch auf unsere Tupperdose verzichten wollen.
Sind Essstörungen Krankheiten?
Essen und Körperform liegen auf einer Schnittlinie zwischen Natur und Kultur. Die Definition dessen, was normal ist und wo die Grenzen zu einer krankhaften Abweichung bestehen, ist immer im historischen Kontext zu betrachten.
Bereits in der Antike gab es extremes Übergewicht. Die Begriffe Essstörung und Adipositas entstanden allerdings erst im 19. Jahrhundert und waren das Ergebnis eines Prozesses des Nahrungsüberflusses bei gleichzeitiger geringerer körperlicher Arbeit und Individualisierung der Ernährung.
Erst diese Entwicklungen machten es möglich, dass extreme Essverhalten durch praktisch alle Mitglieder einer westlichen Gesellschaft selbstbestimmt umgesetzt werden konnte. Gleichzeitig sorgte dies zu einer sogenannten „medizinischen Vereinnahmung“, wie es oftmals bezeichnet wird. War Hungern beispielsweise früher Teil einer magisch-religiösen Praxis in verschiedensten Kulturen, wird es in der heutigen westlichen Gesellschaft von der Mehrheit eher negativ bewertet.
Medizinische Vereinnahmung des Essverhaltens
Dies trifft sowohl auf Krankheiten wie Magersucht, als auch das Umsetzen von Wettkampfdiäten zu. Beide Verhaltensweisen sind davon geprägt, dass sie nicht zur Erlangung des allgemein anerkannten Schönheitsideals umgesetzt werden, sondern Extreme befolgen. Neben dieser sozialen Komponente sollten körperliche Beeinträchtigungen und langfristig sogar Schädigungen jedoch nicht unerwähnt bleiben.
Die enge Verflechtung von biologischer und sozialer Perspektive wird damit deutlich. Gleichzeitig sollte dies eine mögliche negative Tonalität der Vermedizinierung von Essstörungen relativieren. Extreme sind, wie bereits im Rahmen der einleitenden allgemeineren Systembeschreibung angeführt, niemals ohne Konsequenzen.

Die Grenze, wann etwas als Krankheit verstanden wird, ist schlichtweg auch durch den Erkenntnisgewinn geprägt. In Zeiten, in denen Vitamine, Mineralstoffe, Hormone und andere Konzepte den Menschen nicht bekannt waren und reduzierte, wie übermäßige Essenszufuhr nur einem begrenzten Kreis an Personen überhaupt möglich war, war eine medizinische Relevanz schlichtweg nicht erkennbar.
Cheat Meal vs. Bing Eating
Essstörungen sind Krankheiten, wobei es verschiedene Formen gibt und die Kriterien, ab wann offiziell eine entsprechende Krankheit diagnostiziert wird, von den Diagnostic und Statistical Manual of Mental Disorders, kurz DSM, abhängen. Die aktuelle Liste stellt die DSM-5 vor, die beispielsweise auch Binge Eating definiert.
Demnach läge ein Störung vor, wenn es mindestens einmal pro Woche über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten zu einem Essanfall kommt, der von Kontrollverlust und dem Verzehr großer Nahrungsmengen geprägt ist. Es wird hastig gegessen, wobei Hunger keine Rolle spielt und ein starkes Vollgefühl erreicht wird oder sogar darüber hinaus Nahrung zugeführt wird.
Sind Cheat Meals Binge Eating Anfälle?
Sind Cheat Meals oder sogar Cheat Days Binge Eating Anfälle? Nicht im Sinne der DSM, wobei die Überschneidungen deutlich sind. Die Abgrenzung liegt nur im Detail und macht im Kern der Sache wenig Unterschied. Beides zeugt von keinem gesunden Verhältnis zur Nahrung, und der Grund für die bisherige Abgrenzung mag auch in der mangelnden empirischen Untersuchung des Fitness-Phänomens liegen.
Das aktuell gültige DSM-5 wurde im Mai 2013 veröffentlicht und ist seitdem gültig. Der heutige Meta-Konzern kaufte Instagram gerade einmal ein Jahr zuvor, sodass die mediale Präsenz von Essenseskalationen damals noch in den Kinderschuhen steckte.
Social Media und Essstörungen
Eine erste Untersuchung aus dem Jahr 2017 (DOI: 10.1002/eat.22671) kam bei der Auswertung entsprechender Instagram-Post zu dem Ergebnis, dass Cheat Meals als essenzieller Teil eines Fitnesslifestyles nach außen kommuniziert werden würden. Ein Leben in Extremen, das von Hobbysportlern bis zu Wettkampfsportlern mehr oder weniger stark umgesetzt und vorgelebt wird.
Ein Jahr später stellte ein anderes Forscherteam die gewissermaßen offensichtliche Frage, ob Cheat Meals harmlos oder eine Binge Eating Variante sein (DOI: 10.1016/j.appet.2018.08.026). Im Ergebnis wurden, wie schon von mir angeführt, Ähnlichkeiten zwischen beiden Phänomenen herausgestellt, wobei Cheat Meals im Gegensatz zum Bing Eating keine unmittelbare psychische Belastung erzeugen würde.
Insbesondere bei Männern sei eine Tendenz zu generell gestörtem Essverhalten bei Cheat-Meal-Verfechtern jedoch feststellbar gewesen. Das führt zu der Frage, inwiefern Bodybuilder möglicher essgestört sind.
Bodybuilding und Essstörungen
Obwohl Magersucht und Bulimie heutzutage als typische Frauenkrankheiten gelten, wurden die ersten Beobachtungen bei Männern beschrieben. Die Vertreter beider Geschlechter streben nach körperlicher Veränderung, wobei die Motivation bzw. die Zielsetzung unterschiedlich ausfällt. Während Mädchen in der Pubertät beginnen, Sport zu treiben, um abzunehmen, tun Jungen es, um Muskeln aufzubauen.
Männer kontrollieren gemäß der Literatur ihr Essverhalten tendenziell häufiger, um die Leistung zu steigern, Erkrankungen zu vermeiden und mehr Chancen bei der Partnersuche zu haben. Ich würde behaupten, dass diese Beschreibungen generell für Menschen gelten, die Fitness und Bodybuilding in einer leistungsorientierten Form umsetzen.
In einem gewissen Rahmen mag dies nicht dem Ideal jedes Menschen entsprechen, aber stellt noch keine Überreaktion dar, wie ich es weiter oben bezeichnete. Entsprechende Phänomene wurden aber bereits vor fast drei Jahrzehnten in der Wissenschaft dokumentiert.
Der Adonis-Komplex als Grundlage für essgestörte Bodybuilder?
In einer Untersuchung von Pope und Kollegen aus dem Jahr 1993 stellte das Forscherteam bei acht Prozent der untersuchten Bodybuilder ein damals neues Phänomen des gestörten Körperbildes und damit verbundenen gestörten Essverhaltens festes. Ursprünglich wurde dieses in Anlehnung an die Magersucht als „reverse anorexia nervosa“ bezeichnet.
Später wurde der Begriff „muscle dysmorphia“ gewählt. Die Betroffenen haben mehr Muskeln als normale Männern, fühlen sich aber weiterhin dünn. Ein anderer Begriff, der in den Medien häufig verwendet wird, ist der Adonis-Komplex.
Fokus auf clean eating
Essen nimmt für diese Menschen eine große Bedeutung ein, da dieses neben Training als große Säule für das Erreichen der eigenen Ziele gilt. Nicht der generelle Verzicht, sondern der Verzicht auf vermeintlich ungesunde Lebensmittel definiert das Essverhalten.
Zum Binge Eating in Form von Cheat Meals gesellt sich die Ortherexia nervosa – eine Essstörung, die ähnlich wie Cheat Days nicht in der DSM-5 aufgeführt ist. Bei dieser wird sich übermäßig mit der Qualität von Lebensmitteln beschäftigt. Essensauswahl wird zur Ideologie. Das Label „von Ernährungswissenschaftlern entwickelt“ wird zum Qualitätsmaßstab.

Dies ändert nichts daran, dass Betroffene Nahrungsmittel wie in allen anderen Ess-Extremen moralisieren und ihre Identität hierüber definieren. Hier würde ich auch die Grenze des in der Praxis oftmals schmalen Grats zwischen einer disziplinierten und zielführenden Ernährung auf der einen Seite und einem krankhaften Essverhalten auf der anderen Seite ziehen.
Aus über 20 Jahren Erfahrung kann ich sagen, dass auf beiden Seiten Menschen mit unterschiedlichsten Körpern anzufinden sind. Ein dicker Oberarm und ein niedriger Körperfettanteil bzw. dessen Abstinenz lassen keine Schlussfolgerung über das Verhältnis zum Essen zu.
Der Adonis-Komplex als Sucht
Binge Eating, Ortherexia nervosa, Muscle dysmorphia… Welche dieser Bezeichnungen beschreibt nun die Probleme beim Essverhalten von Bodybuildern und Fitnesssportlern? Die Antwort ist, dass sie es alle tun. Während mit dem ICD und dem DSM klare Definitionsrahmen für verschiedenste Störungen und Krankheiten aufgestellt wurden, ist die Praxis häufig komplex.
In der Forschung wird entsprechend auch vom mehrdimensionalen bzw. dynamischen Modell der Essstörungen ausgegangen. Das bedeutet, dass einzelne Essstörungen oft nicht klar voneinander trennbar sind.
Ebenfalls schwierig dürfte die klare Trennung zwischen einem bewussten und kontrolliertem Handeln einerseits und einem suchtgetriebenen Agieren andererseits sein. Die wesentlichen Merkmale einer Sucht sind gemäß Literatur:
- Kontrollverlust
- Entzugserscheinungen
- Wiederholungszwang
- Toleranzentwicklung und Dosissteigerung
- Interessensabsorption und Zentrierung
- Gesellschaftlicher Abstieg
- Psychischer und körperlicher Verfall
- Rückfall
Leistungsorientierte Wettkampfsportler im Bodybuilding – egal ob natural oder nicht – werden fraglos nicht alle in diese Spirale geraten.
Die Sucht der sozialer Anerkennung innerhalb der Fitnessblase, Raubbau am eigenen Körper im Zuge von Wettkampfdiäten für einen Blechpokal und ein Foto des Augenblicks oder die übertriebende Fokussierung auf den Sport, die in keinem Verhältnis zum Ertrag und auf Kosten des restlichen Lebens gehen, sind aber ebenso keine Fantasiekonstruktionen. Vielmehr sind sie bei einem Blick hinter die Social Media Fassade vielfach zu finden.
Außenstehende werden entsprechende Eskapaden oftmals erst dann bekannt, wenn Betroffene medienwirksam im Rahmen ihrer Community das jahrelang selbst gewählte Leid beklagen. Der Sucht nach gesundem Essen wird abgeschworen, aber der nach öffentlicher Anerkennung wird möglicherweise weiterhin gefrönt.
Sind Bodybuilder essgestört?
Sind Bodybuilder und Fitnesssportler essgestört? Wie so häufig, hängt die Antwort auf eine Frage von der eigenen Perspektive ab. Während Betroffene diese abstreiten werden, wird der Otto-Normal-Bürger mit stereotypischen Vorstellungen das gegenteilige Urteil nur allzu leicht fällen.
Es hängt also – bei Beobachter wie Beobachtetem – vom Einzelfall und dem Beurteilungsmaßstab ab. Wie so häufig im Leben gilt daher der Ratschlag, dass es leicht sein mag, sich über andere ein Urteil zu bilden. Die wahre Herausforderung und der tatsächliche Mehrgewinn bestehen aber darin, sich selbst zu reflektieren.
Weiterführende Literatur
- Herpertz, Stephan/de Zwaan, Martina/Zipfel, Stephan (2015): Handbuch Essstörungen und Adipositas. Springer: Berlin.
- Klotter, Christoph (2016) Identitätsbildung über Essen. Springer: Wiesbaden.
- Stahr, Ingeborg/Barb-Priebe, Ingrid/Schulz, Elke (2010): Essstörungen und die Suche nach Identität. Ursachen, Entwicklungen und Behandlungsmöglichkeiten. Juventa: Weinheim.
Titelbild: Archiv | Autor: Dr. Frank-Holger Acker